BAU 2015 Spezial

Frucht­saft und Be­ton – eine neue Ein­heit? Ein In­ter­view mit den Ini­ti­a­toren von „Bau Kunst Erfin­d­en“ zu den Ma­te­rialien der Zukunft

Die BAU ist die Weltleitmesse für Ar­chitek­tur, neue Ma­te­rialien und Sys­teme. Neben den Forschungs­abteilun­gen großer Un­terneh­men und Uni­ver­sitäten sind es vor allem auch Spezial­is­ten und En­thu­si­as­ten wie Heike Kluss­mann und Thorsten Kloost­er, die zur En­twick­lung neuer Ma­te­rial­trends bei­tra­gen. Die Kün­st­lerin und der Ar­chitekt en­twick­eln seit 2009 neuartige und viel­fach preis­gekrönte Ma­te­rial­sys­teme wie den lichtre­flek­tieren­den Be­ton BlingCrete. Mit dem 1. Preis für Exzel­lenz in der Lehre des Lan­des Hes­sen er­hielt die von Kluss­mann und Kloost­er ge­grün­dete, ko­op­er­a­tive Lern- und Forschungs­platt­form „Bau Kunst Erfin­d­en“ an der Uni­ver­sität Kas­sel 2012 ei­nen der höch­st­dotierten staatlichen Wis­sen­schaft­spreise Deutsch­lands. In einem In­ter­view sprachen wir mit den bei­den Ex­perten über blink­en­den Be­ton, Frucht­saft als Baustoff und den Sprung vom La­bor in die Pro­duk­tion.

2009 haben Sie die Forschungs­platt­form „Bau Kunst Erfin­d­en“ ge­grün­det. Was oder wer ge­nau ver­birgt sich hin­ter die­sem Na­men?

HK: Als ich 2005 die Pro­fes­sur am Fachge­bi­et Bil­dende Kunst am Fachge­bi­et Ar­chitek­tur, Stadt- und Land­schaft­s­pla­nung an der Uni­ver­sität Kas­sel ange­treten habe, ar­beit­eten Thorsten Kloost­er und ich bere­its an un­ter­schiedlichen Forschungspro­jek­ten zusam­men. Mit der Forschungs­platt­form Bau Kunst Erfin­d­en woll­ten wir unser­er Ar­beit nicht nur ei­nen fes­ten Rah­men und ei­nen Na­men geben, son­dern auch Studieren­den ein Fo­rum bi­eten, um ei­gene Pro­jekte zu en­twick­eln und konzep­tionell und ma­teriell umzusetzen. Die Platt­form vereint in­zwischen Kom­pe­tenzen und Wis­sen aus den Bereichen Bil­dende Kunst, Ar­chitek­tur, Stadt­pla­nung, In­ter­ak­tions- und Pro­dukt­de­sign, Ex­per­i­men­tal­physik, Chemie und tech­nol­o­gische Ma­te­rial­forschung. Wir ar­beit­en an klas­sischen Forschungs­fra­gen, die wir auch beant­worten. Gleichzeitig ver­suchen wir, uns über die Platt­form ei­nen großen Frei­raum zu schaf­fen für die Kür, für alle Dinge, die Drumherum ent­ste­hen kön­nen.

TK: Wir haben zum Beispiel ein „Do-It-Your­self-Labor“ ge­grün­det, in dem wir unsere Forschung be­treiben. Hi­er bauen wir auch unsere High­tech-Low-Bud­get-Maschi­nen und damit die Werkzeuge für die Ma­te­rialien, die wir en­twick­eln, selbst.

Was für Ma­te­rialien und Pro­dukte sind das?

HK: Wir en­twick­eln Ma­te­rialien oder bess­er ge­sagt ex­per­i­men­telle Ma­te­rial­sys­teme. Ein­er­seits ge­ht es dabei um die Pro­duk­tion dies­er Ma­te­rialien und an­der­er­seits um die En­twick­lung von Ver­fahren für ihre Her­stel­lung. Bei allen Pro­duk­ten­twick­lun­gen ar­beit­en wir mit In­dus­trie­part­n­ern zusam­men. Für uns sind die Er­fahrun­gen aus der Her­stel­lung und Pro­duk­tion sehr wichtig. Wir be­tracht­en sie, wie alle an­deren im Team, als gleich­berechtigte Part­n­er.

TK: Bish­er ist es im­mer so gewe­sen, dass wir die Pro­jekte ini­tiiert und uns da­nach die passen­den In­dus­trie­part­n­er ge­sucht haben.

Das ist ungewöhn­lich.

TK: Ja. Die meis­ten denken bei unseren Pro­duk­ten­twick­lun­gen au­to­ma­tisch an Auf­trags­forschung. Die wür­den wir nicht von vorn­herein aussch­ließen. Doch bei uns ist es aktuell eher an­der­sherum und wir geben den Auf­trag. Uns ge­ht es in er­ster Linie nicht nur um die beispiel­hafte und pro­to­typische An­wen­dung im La­bor, son­dern darum, unsere Forschungspro­jekte und Pro­duk­ten­twick­lun­gen in den In­dus­trie­maßstab zu über­tra­gen.

Ihr er­stes Pro­jekt, der lichtre­flek­tierende Be­ton BlingCrete, hat den Sprung vom La­bor in die Pro­duk­tion geschafft. Wie kam es zu dies­er er­sten Baukun­sterfin­d­ung?

HK: 2002 hatte ich ei­nen Ar­chitek­tur­wett­be­werb für den Neubau ein­er U-Bahn­linie in Düs­sel­dorf zusam­men mit net­zw­erkar­chitek­ten ge­won­nen. In meinem En­twurf für die ins­ge­samt sechs un­terirdischen Sta­tio­nen hatte ich große Flächen mit lichtre­flek­tieren­dem Ma­te­rial vorge­se­hen. Es gab am Markt aber nichts, was den Brand­schutzverord­nun­gen im öf­fentlichen Raum ent­sprochen hätte. Thorsten hatte ger­ade sein Buch über in­tel­li­gente Ober­flächen und ihre An­wen­dung in Ar­chitek­tur und De­sign „Smart Sur­faces“ geschrieben und ich fragte ihn ganz di­rekt, ob er nicht eine Idee hat, wie man solch ein Ma­te­rial her­stellen kann. Wir haben eine Ar­beits­gruppe am der Uni­ver­sität Kas­sel ge­grün­det und da­nach be­gann ein span­nen­der En­twick­lungsprozess. Kurz da­rauf wurde uns­er Pro­jekt durch das Zen­trale In­no­va­tion­spro­gramms Mit­tel­s­tand ZIM des BMWi ge­fördert. Das hat uns let­z­tendlich den zeitlichen und fi­nanziellen Rah­men ge­boten, alles richtig pro­fes­sionell anzuge­hen. 2009 sind wir mit unser­er Idee zu Her­ing Bau ge­gan­gen. Die of­fizielle Mark­te­in­führung war im Jahr 2012. In­zwischen ist BlingCrete eine einge­tra­gene Marke, wir ar­beit­en mit un­ter­schiedlichen In­dus­trie­part­n­ern zusam­men und die er­sten An­wen­dungs­beispiele in Zürich, Bre­men, Ber­lin und in Noale in der Nähe Venedigs ste­hen bzw. wer­den ger­ade ge­baut.

TK: BlingCrete vereint die Ei­gen­schaften Brand­sicher­heit und Festigkeit mit der Ei­gen­schaft der Retrore­flexion. Die­s­es op­tische Phäno­men wird durch Mikro­glaskugeln erzeugt, die in das Träger­ma­te­rial Be­ton einge­bet­tet wer­den. Wichtig dabei ist, dass die Glaskugeln nicht wie Schokostreus­sel in einem Kuchen versinken, son­dern an der Ober­fläche bleiben. Diese kön­nen so in frei wähl­baren Raster­ab­stän­den in Mustern, Schriften, Mo­tiv­en oder nach dem Zu­fall­sprinzip an­ge­ord­net wer­den. Die Ei­gen­schaften von BlingCrete eröff­nen vielfältige Ges­tal­tungs­möglichkeit­en, zum Beispiel für baulich in­te­gri­erte Leit­sys­teme, Flächen­bauteile, wie Fas­sa­den, Bo­den oder Deck­en oder für verkehrstech­nisch- und sicher­heit­s­rel­e­vante Bereiche, wie Trep­pen­stufen, Bahn­steigkan­ten und Tun­nel­durch­fahrten.

HK: Die Ba­sis unser­er Forschung ist der Werk­stoff Be­ton, die Fragestel­lun­gen dage­gen sind im­mer un­ter­schiedliche. Bei dem Forschungspro­jekt „Mag­net­ic Pat­tern of Con­crete“ zum Beispiel haben wir uns ir­gend­wann ge­fragt, ob es möglich ist, mithilfe die­s­es neuen Ver­fahrens ei­nen neuarti­gen leit­fähi­gen Be­ton herzustellen. Da­raus ist dann TouchCrete ent­s­tan­den. Die Weit­er­en­twick­lung ist DysCrete – ein En­ergie erzeu­gen­der Be­ton. Seit dem let­zten Jahr beschäfti­gen wir uns nicht mehr aussch­ließlich mit Be­ton, son­dern auch mit Ma­te­rialien wie Holz.

Lassen Sie uns den­noch beim Be­ton bleiben – was ver­birgt sich konkret hin­ter dem Ma­te­rial DysCrete, das Sie auch auf der diesjähri­gen BAU vorstellen?

TK: DysCrete ist ein neuartiger Ver­fahren­san­satz zur strom­pro­duzieren­den Vere­delung von Be­ton. Das tech­nische Prinzip basiert auf ein­er farb­stoff­sen­si­tivierten So­larzelle (DYSC), welche vor zwanzig Jahre von dem Chemik­er Michael Grätzel von der ETH Lau­sanne en­twick­elt wurde. Auf dem in­ter­na­tio­nalen De­sign Fes­ti­val in Ber­lin 2011 hatte die ETH Lau­sanne ei­nen Stand. Dort sind wir mit sei­nen Mi­tar­beit­ern ins Ge­spräch gekom­men und kon­n­ten uns auch in der Folge weit­er mit ih­nen aus­tauschen. Das Farb­stoff­so­larzellen-Prinzip erk­lärten sie so: Man nehme Frucht­saft – möglichst ohne Zuck­er, Zah­n­pas­ta, Jodlö­sung aus der Apotheke, ein bisschen Glas und ei­nen Gra­fit­s­tift, mit dem man das Glas elek­trisch leit­fähig macht. Das stapelt man alles aufei­nan­der – ähn­lich wie eine Schicht­torte – und man hat eine funk­tionierende So­larzelle, die Strom erzeugt. Uns hat die­s­es sim­ple Prinzip to­tal fasziniert. Wir haben uns die Frage gestellt, was wäre, wenn wir unseren leit­fähi­gen Be­ton – den wir ja bere­its en­twick­elt haben – mit Frucht­saft übergießen und er Strom pro­duzieren würde? Da­raufhin haben wir in unserem La­bor Tests durchge­führt und es hat funk­tioniert.

HK: Wir über­tra­gen zwar das Schicht­prinzip von der Grätzelzelle auf den Werk­stoff Be­ton, denken aber gleichzeitig das Pro­duk­tionsver­fahren des Ma­te­rial­sys­tems im Fertigteil­w­erk mit und die konzeptuelle und an­wen­dungs­be­zo­gene Ebene weit­er. Ziel ist es, ei­nen Werk­stoff und gleichzeitig ein En­ergieerzeu­gungssys­tem herzustellen, das auf be­währte Her­stel­lungs­meth­o­d­en und Bauweisen auf­set­zt und diese er­weit­ert.

Wo se­hen Sie zukünftig Ein­satzge­bi­ete und An­wen­dungs­möglichkeit­en für DysCrete?

TK: Ein Potenzial se­hen wir in der breit­en An­wen­dung des Ma­te­rials. Die Farb­stof­fzelle ist flex­i­bel ges­talt­bar. Die­s­es ergibt sich aus ihrem breit­en Farb­spek­trum, ihr­er Trans­parenz und der Her­stel­lung im Sieb­druck- oder an­deren Druck­ver­fahren. Sie kann al­so sehr be­wusst als Ges­tal­tungse­le­ment in der Ar­chitek­tur oder in an­deren Pro­duk­ten einge­set­zt wer­den. Das Werk­stoff­sys­tem eignet sich be­son­ders für die Her­stel­lung von Be­ton­fertigteilen, für en­ergieerzeu­gende Sys­teme im Hoch­bau – zum Beispiel für Fas­sa­den. Da das Werk­stoff­sys­tem auch En­ergie aus dif­fusem Licht nutzt, kann es auch für in­nen lie­gende Wand- und Bo­den­sys­teme ver­wen­det wer­den. Im Prinzip kön­nte jede ver­siegelte Ober­fläche nutzbar ge­macht wer­den, solange sie aus Be­ton ist: Park­plätze, Fahr­rad­wege, die ganze Stadt ei­gentlich.

DysCrete Ci­ty?

TK: Das wäre the­o­retisch möglich.

HK: Das in­teres­sante an dem Werk­stoff ist, dass er das Po­ten­tial bi­etet in un­ter­schiedlichen Maßstab­sebe­nen zu denken – von einzel­nen Bauteilen, al­so klein und in­di­vi­du­ell bis hin zum groß­maßstäblichen Kon­text ein­er Stadt.

TK: Das große Potenzial der Farb­stof­fzelle beruht auf ihr­er Ein­fach­heit. Die Her­stel­lung benötigt ver­gleich­sweise wenig En­ergie und ver­wen­det un­proble­ma­tische Kom­po­nen­ten. Das heißt, das Ma­te­rial­sys­tem ist re­generier­bar, weit­ge­hend re­cy­cle­bar und umwelt­fre­undlich und es ist kostengün­stig. Wir kön­nen noch keine An­gaben darüber machen was das DysCrete kostet. Dafür ist es noch zu früh. Was wir aber sa­gen kön­nen ist, dass wir diese Forschung mit rel­a­tiv über­schaubaren fi­nanziellen Mit­teln be­treiben. Das Ma­te­rial­sys­tem hat unser­er Mei­n­ung nach das tech­nol­o­gische Potenzial ein­er „Low Cost En­er­gy Source“.

Mit Ihr­er Ma­te­rial­forschung setzen Sie selbst Trends. Wo se­hen Sie zukünftige En­twick­lun­gen in der Ma­te­rial­forschung?

TK: Für uns ist das Zusam­men­brin­gen von High-Tech Low-Tech von großem In­teresse. Wir konzen­tri­eren uns da­rauf, Ma­te­rialien die es schon gibt, zu re-in­ter­pretieren und einem alltäglichen und ver­traut­en Ma­te­rial wie Holz oder Be­ton eine an­dere, neuartige Ebene hinzuzufü­gen. Ich denke, Ma­te­rial muss ei­nen Möglichkeit­s­raum bi­eten – für je­den. In dem Mo­ment wo Ma­te­rial so spez­i­fisch ist, dass es nur noch von Ex­perten genutzt wer­den kann, baut man Bar­ri­eren auf und es ent­ste­ht Dis­tanz. Wir fin­d­en es er­streben­sw­ert, neue Ma­te­rialqual­itäten und tech­nol­o­gische En­twick­lun­gen mit den Möglichkeit­en des „do-it-your­self“ – des in­di­vi­du­ellen Be­nutzens eines Ma­te­rials – zu kom­binieren.

(Das Ge­spräch führte Jean­nette Merk­er.)

BAU KUNST ERFIN­D­EN auf der BAU 2015 München:

In­no­va­tion­s­platt­form Be­ton, Halle A2, Stand 328 19. bis 24. Jan­uar 2015, jew­eils 10 bis 17 Uhr www.be­ton.org

Forschungsini­tia­tive Zukunft Bau, Halle B0, Stand 202 Die Forschungsini­tia­tive Zukunft Bau und das Bun­des­min­is­teri­um für Umwelt, Na­turschutz, Bau und Reak­tor­sicher­heit (BMUB) präsen­tieren DysCrete - Son­nen­strom aus Be­ton 19. bis 24. Jan­uar 2015, jew­eils 10 bis 17 Uhr www.forschungsini­tia­tive.de

DE­TAIL re­search Lab, ICM – In­ter­na­tio­nales Congress Cen­trum TouchCrete™ und DysCrete™ sind Teil der Ausstel­lung "Build­ing the Fu­ture" 19. bis 24. Jan­uar 2015, jew­eils 14.30 bis 17 Uhr www.de­tail.de

Vor­trag Prof. Heike Kluss­mann, Fo­rum B0, Fo­rum Zukunft BAU - Von der Vi­sion in die Praxis: "Ak­tivierung von Betonober­flächen" und weit­er­führende In­for­ma­tio­nen zu DysCrete™, TouchCrete™ und BlingCrete™ Near­field­com­mu­ni­ca­tion 20. Jan­uar 2015, 12 Uhr

Den Ar­tikel auf BAU Spezial fin­d­en Sie hi­er: www.bau-spezial.de

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Frucht­saft und Be­ton – eine neue Ein­heit?
Author
Jeannette Merker

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